Ein bloßer Trend ist vegane Ernährung schon lange nicht mehr. In den vergangenen Jahren sprossen vegane Supermärkte, unzählige Restaurants mit rein pflanzlichen Gerichten und vegane Eigenmarken großer Supermarktketten aus dem Boden. Sogar die Fleischindustrie möchte die wachsende Zielgruppe der Veganer nicht vernachlässigen und entwickelt in ihren Laboren pflanzliche Fleischalternativen. Noch populärer wird Veganismus auch durch Promis, die den veganen Lebensstil anpreisen und sich mit grünen Smoothies in den sozialen Medien präsentieren. Vor Kurzem rief Superstar Beyoncé beispielsweise ihre 112 Millionen Fans auf Instagram auf, ihrer 44-tägigen Herausforderung zu folgen und sich ebenso vegan zu ernähren.
Ernährungspyramide neu
Dass der Verzicht auf alle tierischen Lebensmittel wie Milch, Eier und Käse nicht nur eine Modeerscheinung ist, beweisen auch die Pläne und Reformen einiger Politiker. Die kanadische Regierung arbeitet derzeit an einem neuen Entwurf der gängigen Ernährungspyramide. Im neuen Modell bilden Gemüse, Obst, Vollkorn sowie pflanzliches Protein die Grundlage – anstelle von tierischem Protein aus Milch und Milchprodukten. Das kommt einer ernährungswissenschaftlichen Revolution gleich, empfehlen die Ernährungsgesellschaften Deutschlands und Österreichs noch immer drei Portionen Milcherzeugnisse täglich. Aber auch multinationale Konzerne wie McDonald’s experimentieren seit Jahren an veganen Burgern, um die jährlich wachsende Zielgruppe an vegan lebenden Menschen anzusprechen. Der McVegan, der in Finnland und Schweden zu Testzwecken im Angebot war, wurde alleine im Jänner 2018 rund 150.000-mal verkauft.
Gesundheitsaspekt
Neben Regierungen und Konzernen beschäftigen sich auch viele Wissenschafter mit veganer Ernährung und fördern so immer neue Erkenntnisse zutage. So fanden US-amerikanische Forscher kürzlich in einer Studie heraus, dass vegane Ernährung bei übergewichtigen Erwachsenen die Insulin-Sensitivität erhöhen und die Funktion der Beta-Zellen verbessern kann – was Diabetes Typ 2 vorbeugt. Die Wiener Allgemeinmedizinerin Barbara Kaspar verweist jedoch darauf, dass vegan nicht gleich gesund bedeutet. Ausgewogene pflanzenbasierte Ernährung bedeute für sie eine Kombination aus Gemüse in allen Farben des Regenbogens, Hülsenfrüchten, Samen, Nüssen, fermentierten Lebensmitteln, Obst, Algen, Kräutern, Gewürzen und vollwertigem Getreide aus biologischem, am besten regionalem Anbau. Raffinierter Zucker, Auszugsmehl und industriell verarbeitete Nahrungsmittel sollten dabei gänzlich gemieden werden. Um dieses und weitere Missverständnisse aufzuklären, lesen Sie, was Experten zu den gängigsten Mythen veganer Ernährung zu sagen haben.
Vegane Mythen im Faktencheck
Vier Experten aus den Bereichen Medizin, Sport und Pflanzenzüchtung beziehen Stellung zu gängigen Vorurteilen rund um die vegane Lebensweise und klären auf, wie viel Wahrheitsgehalt wirklich dahintersteckt.
Mythen zu veganer Ernährung, beantwortet von Dr. Barbara Kaspar, Ärztin für Allgemeinmedizin und Homöopathie in Wien
Mythos 1: Fleisch ist als Eiweißlieferant unentbehrlich.
Gesundheitsschädliche tierische Produkte wegen einzelner Nährstoffe zu empfehlen, finde ich fachlich falsch, da man diese Nährstoffe viel besser durch gesunde pflanzliche Nahrungsmittel zu sich nehmen kann. Fleisch ist als Nährstofflieferant entbehrlich. Fleischlastige Ernährung führt eher zu einer Übereiweißung, einem Überangebot an gesättigten Fettsäuren, einer Unterversorgung mit Nährstoffen und einer Übersäuerung. Die Folgen sind die klassischen Zivilisationserkrankungen, wie Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, viele Krebserkrankungen, Nieren- und Lebererkrankungen, aber auch ein Ungleichgewicht im Knochen- und Kalziumhaushalt mit den Folgen der Osteoporose. Die empfohlene Tagesmenge an Protein ist 0,8 mg/kg Körpergewicht. Eine pflanzenbasierte Ernährung mit ausreichend eiweißhaltigen Nahrungsmitteln wie Hülsenfrüchten, Nüssen, Haferflocken, Quinoa, Buchweizen, Samen, Spirulinaalgen und Sojaproduktenkann dieser Anforderung durchaus gerecht werden.
Mythos 2: Menschen sind von Natur aus Fleischfresser.
Täglicher Konsum von Fleisch liegt nicht in der Natur des Menschen. Zu Beginn der Menschheitsgeschichte ist Fleischbeschaffung durch Jagd vermutlich aus Mangel an anderen Nahrungsmitteln notwendig geworden. Tierische Nahrungsmittel haben nur einen kleinen Teil des gesamten Nahrungsbedarfs gedeckt. Häufig wird von Wissenschaftern der Fleischkonsum als Ursache vorteiliger Gehirnentwicklung unserer Vorfahren angeführt. Jedoch könnte auch die Fähigkeit, stärkehaltige Pflanzenteile verdauen zu können, die mit dem Gebrauch des Feuers für die Nahrungszubereitung zusätzlich verbessert wurde, für das Gehirnwachstum und die weitere Evolution des Menschen wesentlich wichtiger gewesen sein. Tatsache ist, dass sich die Menschen schon immer zum größten Teil fleischlos ernährt haben. Regelmäßiger Fleischkonsum hat sich erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in unserer Gesellschaft etabliert. Heute sind wir in der glücklichen Situation, uns diesbezüglich in keiner Notlage zu befinden und daher nicht auf fleischbasierte Ernährung angewiesen zu sein.
Mythos 3: Vegane Ernährung kann den Nährstoffbedarf nicht decken.
Das betrifft vor allem Vitamin B12. Da dieses hauptsächlich in tierischen Produkten vorkommt, weisen Veganer oft einen Mangel auf. Vitamin B12 muss meistens über Nahrungsergänzungsprodukte zugeführt werden. Außerdem gelten Veganer als Risikogruppe für einen Jodmangel. Es wird deshalb empfohlen, eine ausreichende Jodzufuhr mittels jodiertem Speisesalz sowie Meeresalgen mit moderatem Jodgehalt sicherzustellen. Zusätzlich sollten der Eisen- und Kalziumspiegel regelmäßig kontrolliert werden. Zwar enthalten viele pflanzliche Nahrungsmittel Eisen, jedoch in deutlich geringerer Konzentration als manche tierische Produkte. Von einem Vitamin-D-Mangel sind Veganer gleichermaßen betroffen wie Mischköstler. Ansonsten sind Veganer mit Mineralstoffen und Vitaminen bestens versorgt.
Mythos 4: Sojaprodukte enthalten kein Kalzium, sind dafür voller Allergene und Isoflavone, was vor allem für Männer ungesund ist.
Ja, Sojaprodukte enthalten kein Kalzium, werden jedoch häufig mit Kalzium versetzt. Die Allergiehäufigkeit für Soja beträgt 1:2000, d. h. ein Patient von 2000 Patienten hat eine Sojaallergie. Bei Milch ist die Häufigkeit mit 1:50 40-mal höher als bei Soja. Milch sollte also den Kälbern vorbehalten sein und daher reduziert konsumiert oder ganz von unserem Ernährungsplan gestrichen werden. Sojaprodukte in moderaten Mengen genossen weisen viele Vorteile auf. Sie reduzieren Brustkrebs, Darm- und vermutlich auch Prostatakrebs. Außerdem vermindern sie Wechselbeschwerden und haben einen positiven Einfluss auf Knochen- und Hautgesundheit. Die in Sojaprodukten enthaltenen Isoflavone agieren ähnlich wie eine milde Form der Hormonersatztherapie. Ein negativer Effekt bei Männern und Soja hinsichtlich Verweiblichung oder Samenqualität oder
-menge konnte bisher in keiner Studie belegt werden.
Mythos 6: Fleischersatzprodukte wie Sojawürste sind ungesund.
Auch im veganen Lebensmittelsektor gibt es eine Vielzahl an Convenienceprodukten, die den Erwartungen gesunder Ernährung leider nicht gerecht werden können. Ich empfehle daher, beim Kauf von Fertigprodukten immer auf Inhaltsstoffe, biologischen Anbau, Gentechnikfreiheit und Regionalität zu achten, und empfehle, so viel wie möglich selbst und frisch zu kochen.
Mythen zu Soja und deren angeblichen negativen Auswirkungen auf die Umwelt, beantwortet von Prof. Dr. Johann Vollmann, Universitätsdozent an der BOKU Wien
Mythos 1: Für Soja werden Regenwälder abgeholzt und Lebensräume zerstört.
Das stimmt leider mit Bezug auf südamerikanische Anbaugebiete. Um dem entgegenzuwirken, bemühen wir uns, mehr Sojabohnen in Europa auf schon bestehenden Ackerflächen anzubauen.
Mythos 2: Sojabohnen dienen vor allem Veganern zur Erzeugung von Sojaprodukten.
Sojabohnen werden weltweit zu über 90 Prozent als proteinhaltiges Tierfutter verwendet, um damit Fleisch, Milch und Eier zu produzieren. Andererseits werden aus Sojabohnen selbst Lebensmittel hergestellt, traditionelle wie Tofu und Sojadrinks, moderne wie Brotaufstriche, Snacks usw. Ersatzprodukte wie Sojaschnitzel sind Imitate, die nur einen geringen Anteil der Lebensmittelsojabohnen ausmachen. Sojabohnen bzw. Sojabestandteile (Protein, Öl, Lezithin, Schalen, Flocken, …) werden zudem in über 30.000 (!) Lebensmittelrezepturen eingesetzt.
Mythos 3: Sojabohnen sind gentechnisch verändert.
Im weltweiten Anbau sind ca. 70 Prozent der Sojabohnen gentechnisch verändert, um sie herbizidresistent zu machen. In der EU ist der Anbau solcher Sojabohnen aber nicht erlaubt und wird auch nicht praktiziert, sodass die Lebensmittel-Sojabohnen aus österreichischem Anbau sicher gentechnikfrei sind.
Mythos 4: Soja laugt den Boden aus.
Das stimmt nicht. Wie alle anderen Pflanzen entziehen natürlich auch Sojabohnen dem Boden Nährstoffe, um zu wachsen und Biomasse zu bilden. Diese Nährstoffe werden von den Landwirten durch Düngung wieder ergänzt. Beispielsweise wird die Sojabohne im Bio-Landbau besonders geschätzt, weil sie in Symbiose mit Wurzelbakterien Stickstoff aus der Luft fixieren kann, weshalb sie sogar weniger Dünger als andere Pflanzen braucht.
Mythen zu Kindern und veganer Ernährung, beantwortet von Dr. Bernd Balluch, Kinderarzt in Wien
Mythos 1: Vegane Ernährung für Kinder ist ungesund. Die Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde rät sogar davon ab.
Aus meiner Sicht ist es möglich, auch Kinder und Jugendliche vegan zu ernähren; es bedarf jedoch einer gewissen Sorgfalt und erhöhter Aufmerksamkeit seitens der erwachsenen Bezugspersonen, die in meiner Erfahrung meistens gegeben ist. Vegetarier und Veganer legen üblicherweise großen Wert auf die Qualität der Ernährung und resultierend auch auf ihre Gesundheit, was die Arbeit der betreuenden Ärzten wesentlich erleichtert. Da dies aber nicht in allen Familien Voraussetzung sein kann, wird von veganer Ernährung pauschal abgeraten. Individuell kann das aber immer auch gegenteilig zu beurteilen sein.
Mythos 2: Vegane Ernährung ist nichts für Schwangere.
Panikmache ist nicht angesagt. Die Praxis zeigt, dass vegane Ernährung auch in der Schwangerschaft ohne negative Konsequenzen bleibt – vorausgesetzt, dass eine entsprechende Vitaminsubstitution erfolgt (v. a. Vitamin B12, Folsäure und Vitamin D) sowie auf gute Proteinqualität und ausreichend Eisenzufuhr geachtet wird und auch kein kalorischer Engpass entsteht. Vegane Ernährung darf ganz besonders in der Schwangerschaft also nicht unkritisch und unkontrolliert erfolgen.
Mythen zu Sport und veganer Ernährung, beantwortet von Eva-Maria Bernardon, akad. Sport- und Fitnesstrainerin
Mythos 1: Zum Muskelaufbau benötigt der Körper Protein in Form von Fleisch und Eiern.
Dieser Mythos hält sich hartnäckig. Jedoch kann mit einer vollwertigen, abwechslungsreichen, veganen Ernährung der Proteinbedarf problemlos gedeckt werden. Es wird oft übersehen, dass alle Arten von Getreide, Hülsenfrüchten und Nüssen ohnehin hervorragende Proteinlieferanten sind. Man muss also auch nicht zwangsläufig auf Fleischersatzprodukte (die oft stark verarbeitet und nicht sehr gesund sind) zurückgreifen, um den Eiweißbedarf zu decken. Ja, eine rein vegane Ernährung ist für Sportler durchaus empfehlenswert. Wobei man ganz klar sagen muss, vegan ist nicht gleichbedeutend mit gesund! Es gibt eine Vielzahl an Süßigkeiten, veganen Fertigprodukten und ähnlichem, die alles andere als gesundheitsfördernd sind.
Mythos 2: Vegane Ernährung verbessert die Regenerationsfähigkeit und stärkt das Immunsystem.
Einen wesentlichen Vorteil für sportlich aktive Menschen bringt der hohe Obst- und Gemüseanteil in einer vollwertigen pflanzenbasierten Ernährung. Neben einer Vielzahl an Vitaminen und Mineralstoffen liefern sie vor allem auch sekundäre Pflanzenstoffe, die sich im Körper u. a. entzündungshemmend auswirken. Der veganen Ernährung wird im Leistungssport oftmals eine Verbesserung der Regenerationsfähigkeit sowie eine Stärkung des Immunsystems zugeschrieben, dies ist vermutlich auf die entzündungshemmenden Pflanzeninhaltsstoffe einerseits sowie einer Elimination entzündungsfördernder Stoffe (verarbeitetes Fleisch, rotes Fleisch, Innereien) andererseits zuzuschreiben. Je nach Trainingspensum erhöht sich auch der Energiebedarf. Hier sind dann Lebensmittel mit einer hohen Nährstoff- und Energiedichte zu bevorzugen. Nüsse, Samen, Datteln, Bananen – um nur einige beliebte Beispiele zu nennen.
Mythos 3: Der Nährstoffbedarf von Sportlern kann bei veganerErnährungsweise nicht optimal gedeckt werden.
Je mehr Sport betrieben wird, umso mehr Energie verbraucht der Körper. Bei Spitzenleistungen und dementsprechendem Training ist es natürlich notwendig, den Mehrbedarf an Energie zu decken. Eine vegane, zumeist kohlenhydratreicheErnährung bietet hier den Vorteil, dass Kohlenhydrate im Körper schnell verstoffwechselt werden und somit auch schnell als Energielieferant verfügbar sind. Viele Spitzensportler ernähren sich vegan (u. a. Ultraläufer Scott Jurek, Kraftsportler Patrik Baboumian, Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner und seit einigen Monaten auch Formel-1-Fahrer Lewis Hamilton) und zeigen, dass eine pflanzliche Ernährung auch auf Topniveau möglich ist. Die Anfang 2018 erschienene Dokumentation „The Game Changers“ zeigt eindrucksvoll, dass vegane Ernährung sportliche Höchstleistungen perfekt unterstützt.